Mit Ihren Überlegungen stehen Sie nicht allein. Derzeit sind die Medien voll davon, wie verheerend es sei für die allgemeine Moral, dass »die da oben« sich bedienen, Steuern hinterziehen, nicht genug bekämen. Gerade Manager, so hört man, sollten sich ihrer Funktion als Vorbilder bewusst sein. Ich muss gestehen, ich verstehe das nicht. Vorbild sein kann jemand doch nur wegen vorbildhaften Verhaltens, nicht wegen seiner Stellung. Wer die Gesetze bricht oder nur auf seinen Vorteil achtet, ist kein Vorbild, sondern verachtenswert, egal, ob er sonst reich ist, ein Unternehmen lenkt, Musik macht oder am Fließband arbeitet. Die Idee, »die da oben« müssten ein gutes Beispiel geben, halte ich zudem – allein schon wegen der Einteilung oben?unten – für zutiefst undemokratisch; das hinter ihr stehende Gefühl, Mächtige seien bessere Menschen, scheint mir ein Überrest von aristokratischem Denken zu sein, das es zu überwinden gilt. Vorbild ist nur, wer von anderen als solches betrachtet wird. Die Gesetze haben alle gleichermaßen zu achten. Moralisch handeln sollte jeder, egal, in welcher Position. Wer an einflussreicher Stelle sitzt, hat diese Verpflichtungen in doppelter Hinsicht, einmal als Privatmensch und einmal in seiner Funktion – auch gegenüber Untergebenen. Aber er hat sie nicht automatisch doppelt so stark, solange nicht seine Stellung inhaltlich mit erhöhten Ansprüchen verknüpft ist, weil er etwa richtet, predigt oder Gesetze macht. Verzeihen Sie mir bitte, aber wer sich bei unrechtem Verhalten auf Vorbilder beruft, den habe ich im Verdacht, dass er genau so schon immer handeln wollte und nun glücklich darüber ist, eine Rechtfertigung gefunden zu haben. Was Sie als »Moral« bezeichnen, ist keine Moral, sondern eine Ausrede.
Illustration: Jens Bonnke
Illustration: Jens Bonnke