Ich bin so kurz davor, das Gesetz zu brechen. Genauer gesagt die »TaubFüttVerbV HA«. Ausgesprochen rollt es genauso schlecht über die Zunge: »Taubenfütterungsverbotsverordnung«. Erstens: Verwilderte Tauben zu füttern ist verboten. Zweitens: Wer dagegen verstößt, kann mit bis zu 5000 Euro Geldbuße bestraft werden. Zwar gilt das nur für öffentlichen Grund, zu dem mein Balkon nicht zählt. Aber auch da würde ich es tun. Teert und federt mich doch!
Wir sind ein recht taubenunfreundliches Haus, muss ich dazusagen. Morgens auf dem Balkon höre ich neben dem Gurren auch gleich ein scharfes Ksss! Ksss! von den Nachbarn. Mittlerweile kann ich meine Nachbarn an den Verscheuchungslauten erkennen. Unten wird gekssst, oben eher gekscht. Einige haben Falkenattrappen aufgestellt, andere gehen noch weiter. Irgendwann baumelte eine Konstruktion vor meinem Fenster: ein Ball aus glitzernder Folie, gespickt mit Zahnstochern. Eine Art Morgenstern. Dieses Abschreckungsmittel sah so aufwendig aus, als hätten die Leute zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Militärausgaben gesteckt. Das schaffen meine Nachbarn besser als manche NATO-Staaten.
Ich gehörte im Haus zum gemäßigten Flügel. Gut, das Gurren kann den sonntäglichen Morgen schon stören, aber das tut ein putzbegeisterter Nachbar auch. Für meine Freundin war das neu. Sie ist sehr tierlieb, und so stellte sie dem Tier erst recht etwas raus. Wobei, es war kein »Etwas«. Eher ein Amuse-Gueule, eine erlesene Variation aus Sonnenblumenkernen, Erdnüssen und Haferflocken. Nach einiger Zeit kam ein Täuberich mit schwarzgrauem Gefieder angeflogen. Taubenaugen fand ich immer gruselig, fast tot, wie bei Fischen. Diese Augen aber waren irgendwie sanft. Sie betrachteten die Schale, dann fing die Taube an zu picken. Nicht wie die Barbaren beim All-you-can-eat-Buffet. Eher wie die Kenner, die alles ignorieren, was stopft, pickte sich die Taube die Körner raus, während Hafer und Nüsse ignoriert blieben. Wir tauften ihn Johannes B. Körner.
Es dauerte nicht lange, bis Johannes ein Rendezvous mitbrachte, ein elegantes Weibchen mit silbernem Gefieder, die wir Prinzessin Silvia die Achte nannten. Die Acht ist im Chinesischen eine Glückszahl. Und Glück brauchte das junge Paar, das merkte ich, als ich einigen Bekannten von unseren Untermietern erzählte. »Mach das bloß nicht, die kacken dir alles voll!!!«, schrieb einer. Von ihm hatte ich länger nichts gehört, seit er ein Kind hat, und ich fragte mich, ob in dem Ratschlag noch eine versteckte Botschaft lag.
Wir stellten ein Schälchen Wasser raus, weil die letzten Sommertage noch mal fies wurden. Johannes und Silvia tranken gierig, wurden aber oft wieder weggekscht. Vielleicht haben sie ja doch recht, die Nachbarn, fing ich eines Abends an, aber meine Freundin unterbrach mich. Ob ich nicht wüsste, nie überlegt hätte, mir nicht klar sei! Klar war mir das klar. Alle Welt beschwert sich über Tauben. Die Leute schmieren Kleber auf die Fensterbank, installieren Stacheldrähte, heuern Falkner an. In München ballerten Bürger mit Pistolen auf Tauben (illegal), trotzdem werden dort, im Auftrag der Behörden, jedes Jahr 150 bis 300 Tauben abgeschossen. Ähnliches in Limburg. Dort war die »Plage« so groß, dass per Abstimmung entschieden wurde, 400 der 700 Tauben das Hälschen zu brechen. Ging nach hinten los. Der Bürgermeister bekam Ärger, Tierschutzaktivisten protes-tierten, selbst der Talkshowmaster Stephen Colbert aus New York fragte über den Atlantik hinweg: Hey, Germany … you okay?
Mit der Zeit entwickelte sich zwischen Johannes und mir ein freundschaftliches Verhältnis. Er kriegt Frühstück, ich sofort ein schlechtes Gewissen, wenn ich es mal vergesse: Er schaut erst die leere Schale und dann mich durch die Glastür an. Zumindest glaube ich das. Normalerweise irritiert Tauben die Reflexion von Glas, zudem war der Raum dahinter dunkel. Aber ich bin sicher, er weiß genau, dass ich da bin.
Hilft man, ist es falsch. Man gilt gleich als Mitschuldiger, die Tauben vermehren sich doch unkontrolliert, kacken die Bahnhöfe voll, die Dächer, die Denkmäler – und ständig dieser Lärm! Hilft man nicht, ist es auch falsch. Immerhin haben wir Menschen die Tauben überhaupt in diese Lage gebracht. Wir haben sie gehalten, gezüchtet, gegessen und mit Briefen durch die Lande geschickt, manchmal sogar durchs Feuergefecht. Wie »Cher Ami«, jene Taube, die im Ersten Weltkrieg den Notruf einer US-Einheit übermittelte. Sie führte den Auftrag schwer verletzt aus und rettete damit 194 Soldaten. Cher Ami steht heute ausgestopft im Smithsonian Museum in Washington. Ich habe ein Foto gesehen, sie sieht genauso aus wie ich, wenn ich am Montagmorgen meine Lebensentscheidungen hinterfrage.
Ich sah Johannes und Silvia mittlerweile als meine Kinder an. Wenn andere Tauben kamen, machte ich das, was deutsche Eltern mit fremden Kindern so machen: sie ignorieren. Gegessen wird nur mit der eigenen Familie, schönen Abend noch! Eine Freundin fragte mich mal, woran ich Johannes von anderen Tauben unterscheiden könne. Ich war fassungslos ob dieser Oberflächlichkeit. Ganz anderes Gefieder! Ganz andere Augen! Nein, ich kenne meine Kinder. Deshalb war ich recht überrascht, als sie nach einem Urlaub auf einmal wegblieben. Stattdessen befanden sich ein Gerüst vor dem Fenster und ein Schreiben der Hausverwaltung im Briefkasten: Man wolle Taubenabwehr installieren.
Seitdem waren Johannes und Silvia nicht mehr da. Meine Freundin beruhige ich mit den üblichen nüchternen Papa-Phrasen: Die Kinder gehen eben ihren Weg. Aber wie jeder Papa mache auch ich mir natürlich Sorgen. Kinder sind auf die Eltern nicht mehr angewiesen. Großstadt-Tauben auf den Menschen schon. Sie haben nie gelernt zu überleben ohne die Semmelbrösel von alten Damen am Rathausmarkt, ohne die Schälchen von mir.
Irgendwo da draußen wird er sein und vielleicht ein Nickerchen halten. Von was Johannes so träumt? Von Körner-Buffets. Sicheren Nischen. Und vielleicht vom Fliegen.