Im neuen Roman von Martin Mosebach – er trägt den geheimnisvollen Titel Die Richtige – geht es um einen ebenso feinsinnigen wie bestialisch gewissenlosen Maler, der seine Modelle leer saugt wie ein Vampir. Einmal verschwindet er nach einer weiteren Sitzung hinter einem Paravent und kommt mit einer »staubbedeckten Flasche mit verfärbtem und eingerissenem Etikett« zurück. Mit der Aufforderung, sich ab jetzt doch bitte zu duzen, erklärt der Künstler: »Solch einen Wein hast du noch nie getrunken. Das Publikum heute lehnt ihn ab, versteht das nicht mehr.« Aber für ihn sei es das Köstlichste überhaupt, wenn richtig alte Weine den sogenannten Firneton bekämen, sich also mit den Jahren noch einmal verwandelten, so etwas wie eine zweite Fermentation erlebten, zu etwas Neuem würden. Als Astrid, sein Modell, die noch nicht ahnt, worauf sie sich eingelassen hat, den ersten zaghaften Schluck nimmt, rutscht es ihr heraus: »Ein bisschen wie Möbelpolitur.« Und der Maler? Lacht und gibt ihr sogar recht.
Ich las diese Passage und spürte den dringenden Wunsch, auch so einen Firnwein zu probieren, denn von einem Getränk, das zugleich köstlich und nach Möbelpolitur schmeckt, hatte ich nie zuvor gehört. Ich telefonierte durch die Gegend, stellte aber bald fest, dass ein Firnwein gar nicht so leicht zu bekommen ist. In Weinhandlungen kannte man ihn, aber auf Lager hatte man eher keinen, er würde nicht nachgefragt, die meisten Kunden wüssten gar nicht, was das sei, am ehesten werde man noch bei Kellerauflösungen fündig. Diese Weine entstünden eher nebenbei, oft handle es sich um vergessene oder falsch gelagerte Flaschen, übrigens sei jede einzelne eine Wundertüte, man wisse nicht, was einen erwarte, das Ganze sei ein schmaler Grat: Wie viel Sauerstoff hat der Wein über die Jahre hinweg abbekommen? Ist er ungewöhnlich, aber gerade noch genießbar und deswegen besonders interessant? Oder aber endgültig gekippt und abgestorben? Der Name leitet sich übrigens vom Althochdeutschen »firni« ab, was so viel wie »vorjährig« oder »alt« bedeutet.
Am Ende hatte ich Glück: Im Internet stieß ich auf das Weininstitut München und dort auf einen Weinkenner namens Bernhard Meßmer, selbst Sohn einer Winzerfamilie: »Kommen Sie in einer Stunde vorbei«, sagte er, »ich denke, ich habe was für Sie.« Hatte er dann tatsächlich, und zwar aus Zufall: ein paar Flaschen, die er vor vielen Jahren einer Kundin abgekauft hatte, die sie nicht mehr genießbar fand, ein trockener Riesling aus Rheinhessen, Jahrgang 1993, »mit dem könnten wir Glück haben«.
Die erste Überraschung ereilte mich beim Einschenken: Der Wein war dunkelgelb, spielte ins Bräunliche. »Gut so«, sagte Meßmer, der jetzt richtig aufgeregt wirkte. Er nahm freudig einen Schluck, schwenkte den Wein im Mund und spuckte ihn in einen Napf. »Ja«, sagte er, »der hat Firne«, da sei praktisch nichts Frisches, Fruchtiges mehr, dafür schmecke er Tapetenleim, Lack- und Ledernoten, auch getrocknete Kamille, feuchtes Laub, Pilze, Waldboden, also er würde ein Pilzrisotto dazu essen. Freilich sei das eine Geschmackssache, viele Menschen würden diesen Wein umgehend ins Spülbecken befördern.
Und dann nahm ich einen Schluck. Erster Eindruck: Mit einem kühlen Riesling hat das wirklich nichts mehr zu tun. Der Wein schmeckte scharf, etwas bitter, aber ja, irgendwie auch faszinierend, organisch, fast morbide, als hätte man ein Stück Weltgeschichte im Mund, eine Ahnung von zerrinnender Zeit, von Werden und Vergehen. »Behalten Sie die Flasche«, sagte Meßmer. »Schmecken Sie ihm nach.« Und jetzt steht sie in meiner Küche, und ich frage mich, ob ich mich gleich zum zweiten Mal an Neuland, nämlich ein Pilzrisotto wagen soll.