»Mein Mann und ich haben ein fünfjähriges Patenkind, das ein bis zwei Mal im Monat bei uns ist. Sie ist sehr damit beschäftigt, alles in schön und hässlich einzuteilen. Abbildungen von Menschen sieht sie sich gern an, etwa Comic-Mädchen mit großen runden Augen. Fotos in Zeitschriften malt sie an, um sie ›hässlich zu machen‹. Vielleicht ein Lernprozess auf dem Weg, sich in der Welt zurechtzufinden. Allerdings zieht sie die Winterstiefel, die wir mit ihr gekauft haben, nicht an, weil eine Freundin sie hässlich findet. Ich versuche, dem entgegenzuwirken. So erkläre ich, dass Menschen gute Freunde haben, weil sie nett sind, und nicht, weil sie schön sind. Ich frage mich, ob das eine Phase ist oder schon auffällig (durch Medienkonsum und Freundinnen beeinflusst).« Holly R., Hamburg
Es ist ein natürlicher Reflex, gewisse Dinge oder Menschen schöner zu finden als andere. Wäre dem nicht so, würden Babys oder Tierwelpen nicht so verdammt niedlich aussehen. Dass wir Menschen so stark auf das sogenannte Kindchenschema reagieren, belegt doch sehr eindrucksvoll, dass große Augen und kleine Nasen und Münder von Natur aus als besonders anziehend wahrgenommen werden. Diesen Umstand macht sich die Comic-Industrie zunutze, die solche Features gemeinhin noch übertreibt. Ihr Patenkind ist also keineswegs eine oberflächliche Nudel, sondern reagiert bisher sehr natürlich auf ihre Umwelt.
Könnte es sein, dass Sie ein klitzekleines bisschen verstimmt darüber sind, dass Ihr Patenkind die Winterstiefel, die Sie bestimmt mit viel Liebe für sie ausgesucht haben, nun aufgrund des unbedachten Kommentars einer mutmaßlich ebenfalls Fünfjährigen verschmäht? Das wäre sehr verständlich. Oft malt man sich etwas, das mit Kindern zu tun hat, so schön aus, und dann kommt in Wahrheit alles ganz anders. Ich würde mir jedenfalls an Ihrer Stelle (noch) keine Sorgen machen. Schauen Sie mal, mit gerade fünf Jahren hat man ja auch noch gar nicht so viele Kriterien zur Auswahl, mit der man sich die Welt einteilen könnte in Einheiten, die man etwas besser überschaut als das viel zu große Ganze. Schön und hässlich kommt vermutlich recht schnell hinter groß und klein, gut und böse, lustig und ernst. Nicht so schön, dafür aber interessant, oder: ein Charaktergesicht, das auf den zweiten Blick sehr anziehend ist – solche Verfeinerungen sind ein Lernprozess, der schon noch kommen wird.
Das heißt aber nicht, dass Sie sich verbiegen sollten: Erklären Sie Ihrer Patentochter die Welt ruhig so, wie Sie es für richtig halten. Grämen Sie sich nur nicht, wenn diese im Moment die Meinungen Gleichaltriger für mindestens genauso wichtig hält.