Größe gilt als beeindruckend. Das sieht man an den Pyramiden, an den Skulpturen auf den Osterinseln, an weltlichen und religiösen Prachtbauten. Kleiner wäre praktischer gewesen, aber kleine Weltwunder gibt es nicht. Im Petersdom in Rom sind auf dem Boden Markierungen gesetzt, die zeigen, dass die anderen riesigen katholischen Kirchen leider kleiner sind, es schwingt mit: nicht so dolle.
Wie kommt es dann, dass die Kunstwerke der in Schottland lebenden Künstlerin Lola Dupre zwar Größe zeigen, aber dass man beim Betrachten eher Rührung und vielleicht Grusel empfindet, als dass einen Erhabenheit niederdrückt?
Es liegt erst mal daran, dass Dinge, die übertrieben groß sind, etwas Kindliches haben. Sie erinnern daran, wie man als Kind malt. Sobald man einigermaßen etwas hinkriegt, das man wiedererkennt, merkt man, dass man die Dinge so groß oder klein malen kann, wie man will, aber dass es einen mit einer seltsamen Befriedigung erfüllt, sie groß und größer zu malen. Als der Sohn von Freunden im Grundschulalter war, malte er mit Begeisterung, Hingabe und einiger technischer Fertigkeit sehr große Schiffe. Mit so vielen Bullaugen und Containern, dass er oben und an den Seiten immer mehr Malblätter ankleben musste. Ihr Kühlschrank war voll von diesen Bildern, man konnte an den hier und da blasser werdenden Schraffuren sehen, wie viele Filzer auf dem Weg der Fertigstellung die Grätsche gemacht hatten. Ich erinnere mich an ähnlich angelegte Raumschiffe aus meiner Kindheit: schwerelose Gefährte, die meine Freundin Michi und ich in der zwei-ten Klasse immer größer malten, auf dem Endlospapier der damaligen Nadeldrucker, immer mehr Kabinen, Flügel, Antennen, Düsen, Laserkanonen. Weil das bedeutete, dass wir immer weitermalen konnten, und weil es sich anfühlte, als wären wir mächtiger und größer, als wir waren.
Die Fortbewegungsmittel von Lola Dupre haben einen ähnlichen Effekt. Sie wirken nicht unmittelbar bedrohlich, sondern eher ausgelassen, übertrieben zuversichtlich, weil sie in kindlicher Weise auf Größe vertrauen. Dabei schwingt zugleich etwas Melancholisches und kurz vorm Wegschauen eben auch Gruseliges mit. Denn diese Größe ist so sinnlos und ungelenk, sie möchte von sich selbst beeindruckt sein und andere beeindrucken, aber sie ist in Wahrheit grotesk und surreal.
Genau diese Wirkung entsteht, wenn man sich die Vergleichsbilder anschaut von Automodellen in den Fünfziger-, Sechziger-, Siebzigerjahren und den Nachfolgemodellen heute. »Autos mit Fettsucht« hat die Süddeutsche Zeitung diese Entwicklung einmal genannt. Die aktuellen sehen neben den ursprünglichen, immer viel kleineren Modellen nicht etwa stärker, besser, imposanter aus, sondern ungeschlacht, ziellos, hilflos. Sie zeigen einem unmittelbar, was auch in Dupres Bildern mitschwingt: dass Wachstum als einzige Zukunftsidee auf die Dauer hohl und bestenfalls unfreiwillig komisch ist.
Davon kann man sich live überzeugen, wenn in einem Burger-Restaurant am Nebentisch der tatsächlich auf der Karte stehende dreistöckige Burger mit 450-Gramm- Pattys serviert wird (zum Beispiel der »Kreatur Burger« bei »Dulf’s Burger« in Hamburg, 24,90 Euro). Er ist von Dupres Burger noch volle neun Hackfleischlappen entfernt, aber der Effekt ähnelt sich: Man erschrickt und muss lachen. Es gibt ein großes Hallo an den Nebentischen, wir fragen die beiden Bros, die sich jeweils einen »Kreatur Burger« bestellt haben, ob wir ein Foto von ihrem Monster-Essen machen dürfen, und danach beobachten wir sie aus dem Augenwinkel mit einer Mischung aus Neid und Schadenfreude dabei, wie sie an ihren Fleischbergen scheitern.
Es zieht sich eine Ahnung durch den Zeitgeist, dass Größe und Wachstum scheinbar unausweichlich sind, aber dass in Wahrheit Kleines und Unauffälliges für die Welt besser wäre. Große Dinge bekommen daher, absichtlich oder unfreiwillig, einen lächerlichen, fast satirischen Charakter. Etwa, wenn man in Achtzigerjahre-Filmen die Menschen stolz mit riesigen Mobiltelefonen hantieren sieht (unfreiwillig komisch). Oder (satirisch) wenn die Komikerin Amy Schumer in der Parodie auf das Fernsehklischee der lebenslustigen Alkoholikerin von Einstellung zu Einstellung ein größeres Weißweinglas in der Hand hält, bis sie sich am Ende dagegenlehnen kann wie an eine Litfaßsäule. Größe ist in diesen Fällen hilfloser Exzess. Lieber käme man ohne Weinglas durch den Tag, lieber hätte man ein kleineres Telefon. Die Ära der »Phablets«, also der Tablet-großen Riesentelefone, war Anfang der 2010er-Jahre heftig, aber kurz, wohl niemand sehnt sich danach zurück. Wir leben in einer merkwürdigen Übergangsphase, in der die Dinge immer noch größer werden, in der aber eine Sehnsucht nach dem Kleinen wächst.
Das liegt auch daran, dass Größe ein Zeichen von Überforderung ist. Wenn sich aus dem Grundrauschen der vergangenen zehn Jahre etwas heraushören lässt, dann die Botschaft: Es wird alles zu viel. Bei Lola Dupre signalisieren das vor allem die ausufernden Tastaturen. Es gibt dieses philosophische Theorem, dass ein Affe, der unendlich lange auf seine Tastatur einhackt, irgendwann Shakespeares Gesamtwerk tippen wird. Es ist seit Kurzem widerlegt (nicht genug Affen und nicht genug Zeit im Universum), aber eine Dupre-Tastatur scheint auf den ersten Blick zu versprechen, man könnte eben doch alles schaffen, alles erledigen, alles regeln, wenn man nur noch mehr Tasten am Computer hätte. Im nächsten Augenblick schlägt das allerdings um in die Erkenntnis: Mehr Tasten bedeuten nicht noch mehr Shakespeare, sondern noch mehr Chaos, noch mehr Überforderung. Und diesem Gefühl kann man nicht entgehen, indem man mit allen Menschen, die man kennt, in ein Wohnmobil mit dreizehn Blinkern steigt. Sondern nur, wenn man unter all den Knöpfen und Tasten den Ausschalter findet.