In Bayern markiert das Jahr 2025 eine nie dagewesene Ausnahme: Es wird an den allermeisten Gymnasien keinen Abiturjahrgang geben. Der Rückbau vom achtjährigen auf das neunjährige Gymnasium bringt diese Lücke hervor – und nebenbei die Erfahrung, dass sogar im Freistaat einelaut beklatschte politische Entscheidung auch mal zurückgenommen werden kann.
Koa Abi 2025 also an bayerischen Gymnasien, was bedeutet das? Die Öffentlichkeit wird den Ausfall kaum bemerken, trotzdem wird der eine oder andere die Veränderung vielleicht fühlen. Denn jedes Abitur bringt ja eine kreative Subkultur mit sich: Abizeitung, Abistreich, Abifahrt, Abishirt, Abiball, Autoaufkleber, Partys et cetera, und gerade in einer kleinen Stadt sind diese Umtriebe fester Bestandteil des Jahreskalenders, an den Schulen sowieso. Dort erfüllen die zum Ende hin eskalierenden Aktivitäten einer Abschlussklasse eine wichtige Vorbildfunktion für alle unteren Klassen. Es geht um den ungelenken Flirt mit der Freiheit, der mit diesen Aktionen eingeleitet wird. Das ganze provokante Herumhängen der Letztklässler und das demonstrative, langsame Auflösen der festen Schulstrukturen und Stundenplanordnung, dieser wachsende Ungehorsam, der sich schließlich in gern überzogenen Abistreich-Aktionen entlädt oder in einer scharfen Abschlussrede auf dem Abiball: alles Dehnübungen für den großen Schritt ins Erwachsensein.
Und für die jüngeren Jahrgänge jedes Jahr wieder eine wohltuende Erinnerung daran, dass das System ein Ende hat. Glaubt man ja nicht, wenn man gerade von der siebten in die achte Klasse wechselt, dass dieses mühsame Treppenhaus wirklich irgendwohin führt. Es ist deshalb schon wichtig, dass die Abiturienten oben auf dem Gipfel noch mal winken und klarmachen: Das schafft ihr auch. Anders gesagt: Ein Jahr ohne Abistreich ist so, als wäre an den Gymnasien das Überdruckventil verstopft. Die Schulen täten deshalb gut daran, sich für das Ausnahmejahr 2025 eine Ersatzeskalation auszudenken.
Auch für Außenstehende ist die gelegentliche Begegnung mit Abiturienten eine bereichernde Erfahrung. Diese trunkenen, grölenden, flatterhaften, wunderschönen Menschen stehen für einen sehr besonderen Moment im Leben, und sie erinnern die Beobachter jedes Mal kurz wieder daran, wie sich diese Phase, wie sich das Ende der Schulzeit angefühlt hat: Lehrer und Eltern lassen einen aus ihrer Umklammerung. Universität, Arbeitgeber und allgemein der Ernst des Lebens haben noch keinen Zugriff. Für einen kurzen Moment ist alles unklar und deswegen herrlich offen. Es ist nicht nur eine gute Zeit, es ist die beste. Aber das begreift man erst hinterher, zum Glück.
»Die Lauten werden demütig, die Leisen atmen auf, weil sie jetzt in Ruhe weitermachen können«
Wie man mit diesem seltsamen Zustand und den unsortierten Monaten rund um das Ende der Schulzeit klarkommt, ist Typsache. Die einen brauchen die räumliche Entfernung zu ihrem bisherigen Leben. Die fahren ein ganzes Jahr lang immer wieder weg, mit einer immer weiter erodierenden Freundesgruppe und dem stillen Wunsch, dass der schwebende Abisommer nie aufhört. Andere treiben nach einem oder drei Monaten mit irgendeiner Strömung ganz sachte weg aus ihrem alten Leben, einfach weil ihre Leinen gekappt sind und sie losgelassen haben. Die Rituale, die Feste, Gruppenfotos und T-Shirts sind ja auch das – Abstandshilfen, Warentrenner. Zwölf Jahre lang verbrachte man einen Großteil seines Tages im Klassenkollektiv, aber mit dem Abitur in der Hand ist jeder plötzlich ein Einzelner, der seinen eigenen Weg finden soll. Manche verschwinden am Tag nach dem Abiball grußlos für immer und werden zu den Mysterien späterer Klassentreffen, bis ihre Namen in Vergessenheit geraten. Andere trinken sich allein in der Schülerkneipe fest, weil es ihnen so vorkommt, als hätten sie hier und jetzt ihren Zenit schon überschritten und als wäre das große Unbekannte, das auf sie wartet, zu groß und unbekannt. Die Lauten werden ein bisschen demütig, weil ihr Publikum plötzlich fehlt. Und die Leisen atmen auf, weil sie jetzt in Ruhe weitermachen können.
All das also, diese ganzen kaum sichtbaren Gesetzmäßigkeiten werden diesen Sommer in Bayern fehlen. Es werden weniger Prüfungsangst, weniger Elternstreit, weniger Notenneid in der Luft liegen. Aber auch weniger von dem Zauber, der einem großen Anfang innewohnt.