Soll man einen Fremdgeher im Zugabteil stellen?

Was, wenn man im Zug die Gespräche eines Fahrgasts mithört, der seine Frau betrügt? Sollte man sich einmischen? Unsere Kolumnistin hat eine klare Empfehlung.

Illustration: Serge Bloch

»Neulich im ICE-Großraumabteil. Ein Mitreisender dauertelefoniert sehr laut abwechselnd offenbar mit seiner Frau und seiner (oder seinem) Geliebten. Aus den Gesprächen wird klar, dass die Ehefrau nichts von der Affäre weiß. ›Ich muss noch arbeiten, weiß nicht, wann ich hier wegkomme, es wird spät heute.‹ Und im nächsten Anruf sagt er: ›Bin in zwei Stunden da, meiner Frau hab ich erzählt, ich muss noch arbeiten, wir hätten dann mehrere Stunden.‹ Ich frage mich: Hätte ich aufstehen und ihm sagen sollen, was für ein verlogener Mistkerl er ist? Oder ins Telefon rufen, wenn er gerade mit der Frau telefoniert: ›Glauben Sie ihm kein Wort! Er telefoniert parallel die ganze Zeit mit seiner Affäre, die er gleich trifft!‹?« 
Anonym, per Mail

Sind Sie sicher, dass das Ganze kein versteckter Dreh für die Sendung Verstehen Sie Spaß? war? Wie kann man denn so viel Glück mit seinem Abteil haben? Ich kriege immer nur so Jürgens ab, die ihren möglicherweise fiktiven Gesprächspartnern davon erzählen, bei welchem Megadeal man nun kurz vor dem Abschluss stehe und dass die Verbindung – »Hallo, hörst du mich? Bin gerade im Zug« – leider ganz schlecht sei. Sie dagegen kann man zu diesem kostenlosen Bordprogramm doch nur beglückwünschen. Ein Live-Hörspiel, feinste Improvisationstechnik, und Sie waren dabei.

Aber fragen Sie sich nicht weiter: Sie haben völlig richtig gehandelt, sich nicht in das offenbar anspruchsvolle Privatleben eines unbekannten Mitreisenden einzumischen. Erstens wissen Sie nicht, ob er wirklich mit jemandem telefoniert hat. Zweitens haben Sie trotz Ihrer schönen Hellhörigkeit keine Ahnung, was sich in dessen Leben abspielt. Stellen wir uns kurz vor, seine Ehefrau und er hätten eine sogenannte offene Ehe. Gerade erst neulich habe sie ihm von ihren zwei letzten Liebhabern erzählt und ihn gleichzeitig bei seinen Geschichten um Diskretion gebeten. »Lüg mich bitte an, Friedrich«, sagte sie feierlich beim Abendbrottisch zu ihm, »ich möchte nichts wissen.« Und liebender Ehemann, der er ist, hält er sich nun tapfer daran, so schwer es ihm auch fällt, wirklich gar nichts zu verraten. Es ist jedenfalls nicht die Aufgabe von zufällig in den Abgrund eines Ehelebens hineinblickenden Fremden, sich auf eine Seite zu schlagen und in einem fahrenden Zug für Wahrheit und Ordnung zu sorgen. Nein, Ihnen hat das Schicksal, das es gut mit Ihnen meinte, hier die Rolle einer unbeteiligten Zuhörerin zugedacht, die sich wundern und bedächtig mit dem Kopf schütteln kann. Was haben andere Leute doch für Sorgen.