Elexier mit Eigenleben

Für die einen ist es nur ein Eistee aus einem Schweizer Supermarkt, für unseren Autor ein ikonisches Getränk. Wenn doch nur alles so beständig wäre wie dieser Nektar mit Zitrone.

Foto: Erli Grünzweil

Ja, ja, die Alpen, der Schnee, Fondue und Zürich, aber das Tollste an der Schweiz ist für mich die Migros. Hä? Gut, dass Sie fragen! Es wäre schon eine Beleidigung, die Migros schlicht als »Supermarkt« zu beschreiben, nicht mal Supermarktkette träfe es. Hier kann man noch einkaufen, ohne sich selbst zu verkaufen. Ich würde sogar behaupten, die Migros ist das Fundament dieses Landes. Und das liegt auch an ihrem Eistee.

Ich erinnere mich, wie ich den zum ersten Mal probiert habe. Meine Freundin war auf der Arbeit, und mich verschlug es ins Migros-Restaurant. Gut, es war mehr Kantine als Restaurant, ähnlich wie bei Ikea. Aber ich war gleich verliebt. Ein Schweinebraten, der selbst die Bayern ihre Krüge heben ließe. Ein illegal cremiges Kartoffelgratin, möge es schnell heiraten und kleine Kartoffelgratins zeugen, bitte und danke. Aber der Eistee! Dieser leicht bittere, perfekt gesüßte und eisgekühlte Nektar mit dem Hauch von Zitronen, der durch meine Kehle rann, wie er schon durch viele Schweizer Kehlen geronnen war, generationenlang. Er schmeckte nach Sommer und Freibad und Pommes mit ganz viel Mayo und Mutproben und Myspace und aufgeschlagenen Knien und Gameboys und Tagen, die sich viel länger anfühlten als diese 24 Stunden, mit denen wir uns heute herumschlagen. Am liebsten hätte ich sofort meine Freundin angerufen und ihr ins Ohr gejauchzt: Der Eistee, der Eistee! Aber sie hatte eine wichtige Präsentation.

Zwischen dem gottlosen Frönen fragte ich mich, wieso ich so verliebt war. Das Essen ist günstig und lecker, die Portionen sind groß. Aber vor allem habe ich hier das Gefühl, mich nicht verstellen zu müssen. Dieser Ort setzt nichts voraus. Niemand schaut, ob man etwas bestellt oder einfach nur sitzen will. Hier gibt es keine überteuerten Kaffeekreationen, keine verrückten Smoothies und keine Corporate Deppen, die in ein Headset faseln. Hier sitzen Großfamilien mit tobenden Kids, frisch verliebte Paare, ein alter Herr im Cordanzug, der Zeitung liest.

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In gewisser Weise passt so ein Eistee perfekt hier rein, dachte ich. Wäre Eistee ein Mensch, sähe ich einen Kioskbesitzer in seinen Vierzigern vor mir. Persönlichkeit: Golden Retriever. Seit er den Laden vor 15 Jahren vom Onkel übernahm, hat er weder die Preise geändert noch seinen Kleidungsstil (Basecap, Jeans, Flanellhemd) oder die Einrichtung (Dartscheibe, Kalender mit Datumsschieber und aus irgendeinem Grund sehr viel Weihnachtsschmuck). Auf dem Boden stehen Kisten mit Brause, in den Regalen Snacks aus aller Welt und Tetrapak-Eistee, immer Tetrapak. Wer Eistee in Dosen mag, der mag auch diese Rapper-Plörre, murrt er bei Gelegenheit. Alkohol verkauft er nicht. Davon gab’s zu Schulzeiten genug. Überhaupt sind alle aus der Schule in die Großstadt oder ins Ausland abgehauen. Nur er ist noch hier. Er meint das nicht als Schuldeingeständnis, sondern als Versprechen.

Vielleicht übertrieben, das alles aus einem Eistee herauszuschmecken. Aber irgendwie auch nicht. Mich beruhigt die Vorstellung, dass manche Dinge überdauern. Man selbst bleibt ja schon nicht, wie man ist, da kann das doch so ein Eistee tun. Heute, wo doch jeder zweite Rapper meint, er oder sie müsse nicht nur Musik, sondern auch noch Eistee machen. Ich erzähle meiner Freundin später davon, und sie sagt, dass der Eistee von Migros genau deshalb so ikonisch ist. Vieles ist gleich geblieben, die Verpackung, das Logo. Vergangenes Jahr feierte der Eistee seinen 40. Geburtstag. Ich mag die Vorstellung, dass zu meinem 40. die Migros immer noch den Eistee macht. Nur bitte keine Rapmusik.