Einmal Rausch, bitte!

Unser Autor ist umringt von Menschen, die weniger trinken wollen. Er selbst sehnt sich verzweifelt nach einer durchzechten Nacht – aber kriegt es nicht mehr hin.

Foto: Erli Grünzweil

Ein Freund von mir hat ein Buch geschrieben. Es heißt: Ein Mann, ein Jahr, kein Alkohol. Er beschreibt darin, wie er ohne Alkohol nicht nur zu einem gesünderen Menschen, sondern auch zu einem besseren Vater, Sportler, Liebhaber und überhaupt zufriedener wird. Man muss dazu sagen: Er war ein ordentlicher Schluckspecht vorher, er selbst nennt es Alltagsalkoholismus, die Bierchen im ICE-Bordrestaurant, der gepflegte Absturz am Wochenende, »Vollgas bei Junggesellenabschieden, Klassentreffen, Geburtstagen, Taufen, Verlobungsfeiern, Hochzeiten, Vatertagsausflügen, Wochenendtrips, Beerdigungen, Weihnachtsfeiern, Skireisen, Volks-, Wald- und Sommerfesten«, und eigentlich geht die Liste noch weiter, aber man weiß, was er meint. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, sein nüchternes Jahr tatsächlich durchzuhalten, also der Wirklichkeit in ihrer deprimierenden Konkretheit rund um die Uhr ausgesetzt zu sein, hat er sich einige Joker für besondere Anlässe genehmigt, um anschließend, von Selbsthass gequält, noch konsequenter stilles Wasser zu bestellen.

Irgendwo in der Mitte des Buches hegte ich einen Verdacht, der nach und nach Gewissheit wurde: Der Mann, der ein Jahr lang (fast) komplett auf Alkohol verzichtet hatte, um ein Buch darüber zu schreiben, hatte in diesem Jahr immer noch mehr getrunken als ich. Ich ließ mein Jahr Revue passieren, erinnerte mich an Geburtstags- und Hochzeitsfeiern, aber mehr als ein gelegentliches Glas Wein und einige Drinks (für diese Kolumne) kamen nicht zusammen, richtig betrunken war ich überhaupt nicht. Dabei vertrat ich 49 Jahre lang die These, dass ein schöner Rausch von Zeit zu Zeit erlösend wirken kann, sei es, um der eigenen Verspanntheit entgegenzuwirken oder auch nur das Gesundheitsdiktat einer lustfeindlichen Vorsorgegesellschaft zu verhöhnen, die das Leben zunehmend von der Gefahr her denkt. Ich habe betrunken jedenfalls unglaubliche Dinge erlebt, die ich nüchtern verpasst hätte. Ehrlich gesagt bin ich immer noch dieser Meinung, es gelingt mir nur nicht mehr, sie umzusetzen. Ich habe, ohne dass ich es mir erklären könnte, die Lust am Alkohol verloren. Bier? Geht so. Wein? Schon gut, aber Apfelsaftschorle ist auch nicht übel. Gin Tonic? Kann man machen, muss man aber nicht. Meine Freunde denken, es sei das Alter, womöglich ein existenzieller Schwenk, eine Art neues Bewusstsein angesichts des bevorstehenden fünfzigsten Geburtstags, aber das ist es nicht. Es wäre auch albern, weil ich ein streng nach Gesundheitsdaten ausgerichtetes Leben spießig finde und moralische Makellosigkeit erst recht. Die Wahrheit ist banaler: Ich verfolge keinen Plan und erst recht kein Ziel, die Freude am Trinken, am Exzess ist mir abhandengekommen wie ein Regenschirm, absichtslos und nebenbei. Ich komme in eine Bar und verspüre große Lust, einen Orangensaft zu bestellen, ein wenig zu plaudern und eine Stunde später zu Hause im Schaumbad zu liegen.

Das Ganze wäre nicht weiter schlimm, aber wenn ich ehrlich bin, leide ich ein bisschen darunter. Im Grunde geht es mir wie meinem Freund, nur andersrum: Ich versuche das Trinken wieder zu lernen, weil ich endlich mal wieder aufwachen möchte, ohne mich daran erinnern zu können, wie ich nach Hause gekommen bin. Es war immer so schön, so unbeschwert, als würde die Zeit für einen Moment aufhören zu vergehen. Zuletzt habe ich es einige Male probiert – leider ohne Erfolg. Die Ausgelassenheit, nach der ich suche, hat sich nicht eingestellt, es fühlte sich schief, irgendwie schal an. Ich frage Sie also tief besorgt: Haben Sie einen Tipp? Gibt es ein Medikament? Einen Ratgeber? Eine Spezialklinik? Eine minimalinvasive Behandlung? Soll ich womöglich ein Buch darüber schreiben?